Paul Bellamy: B. H. Abrahams, Spieluhrenhersteller und Händler. In: Das mechanische Musikinstrument, Nr. 144 (2022). S. 6f.

Der Spieldosenhersteller und Händler Barnett Henry Abrahams (1839-1902) besaß in London Geschäftsräume, in denen er eine breite Palette von Haushaltsartikeln verkaufte. Ein Bericht besagt, dass das Geschäft bereits 1832 gegründet wurde, und 1845 befand sich das Geschäft in einer anderen Londoner Straße namens Cheapside. 1866 wurde die Adresse in 128 Houndsditch, London geändert. Daneben gab es auch Räumlichkeiten in 127-135, Shepperton Road, London, wobei hierzu das genaue Datum unbekannt ist.

Das „Commercial Directory of Jews of the United Kingdom“ (G. Eugene Hartfield: A Commercial Directory of the Jews of the United Kingdom, London und Richmond (USA) 1894) von 1894 verzeichnet B. H. Abrahams als hochrangige Persönlichkeit im Komitee der Borough Synagoge in der Heygate Street, Walworth, London. Im selben Jahr wurde ein B. A. Abrahams in einem kommerziellen Verzeichnis als Juwelen-Großhändler im Star Silver Depot aufgeführt. Es ist anzunehmen, dass das „A“ eine falsche Schreibweise für „H“ war. Anscheinend war Abrahams auch Großhändler für den Schweizer Spieldosenhersteller Cuendet.

Gegen Ende der 1870er Jahre gründete Philippe Cuendet-Develay mit seinen beiden Söhnen Charles und Samuel Cuendet-Seeger die Manufaktur Cuendet-Develay Frères. Damals war es bei einer Heirat Brauch, die Familiennamen der Ehefrau (Develay und Seeger) und des Ehemannes zusammenzuführen. Auf der Genfer Maschinen- und Werkzeugausstellung 1880 präsentierte sich die Firma zum ersten Mal der Öffentlichkeit und 1883 wurde die Manufaktur als Cuendet-Develay et Cie als Produzent von Uhren und Spieluhren neu registriert. Philippe zog sich 1888 aus dem Geschäft zurück, und seine Söhne Charles und Samuel führten ab diesem Jahr das Geschäft als Cuendet-Develay Fils & Cie weiter, stellten jedoch die Uhrenproduktion ein. 1894 ging Samuel in den Ruhestand und sein Bruder Charles führte das Geschäft als Cuendet-Seeger fort, bis am 24. August 1895 Abrahams die Reste der Manufaktur übernahm.

Am 31. August 1895 informierte die Lokalpresse die Arbeiter von Sainte-Croix und Umgebung, dass am 2. September 1895 in der Rue des Arts Nr. 3 eine neue Spieluhrfabrik mit Charles Cuendet als Direktor eröffnet werden sollte. Warum Abrahams beschloss, das Geschäft zu kaufen, ist nicht bekannt. In diesen Jahren verlagerte sich der Markt sehr schnell von den Zylinder-Spieluhren zur Blechplatten-Spieldosen-Produktion. Abrahams musste sich also dazu entschieden haben, ein kommerzielles Risiko einzugehen und wollte wohl Marktrends mitgestalten.

In London befand sich ein Großteil des Spieluhrenmarktes in der gleichen Gegend wie der Uhren-, Gold-, Silber-, Diamanten- und Schmuckhandel, nicht weit von den Londoner Dockland-Häfen und –Lagerhäusern entfernt. Es war eines der großen Handelszentren der Welt, und Abrahams wollte seine Geschäftsaktivitäten ausweiten, da der Markt für Zylinder-Spieluhren im Sterben lag, die Platten-Spieldose aber zu expandieren schien. Abrahams gelang ein bemerkenswert schneller Produktionsstart, und das Verkaufsangebot wurde erweitert. Inzwischen umfasste das Sortiment sowohl kleine Musikwerke für Spielzeugartikel als auch große Instrumente. Die Produkte waren von hoher Qualität, das Unternehmen expandierte und beschäftigte bald mehr Personal. Abrahams stellte 1896 auf der Exposition Nationale in Genf aus und wurde mit einer Silbermedaille ausgezeichnet. Die Auszeichnung ehrte die unverwechselbare Klangqualität. Zu den Exponaten gehörten auch Zylinder-Spieluhren, die bei einem Zylinder-Durchmesser von 14 cm mehrere Melodien pro Umdrehung spielten.

Auf der Brüsseler Ausstellung 1897 gewann Abrahams eine weitere Silbermedaille. In einem Bericht stand, dass die Musik-Spielwerke der Firma in Tischen, Schreibtischen, Schränken, Handschuhfächern, Likörschränken, Karussells und Drehdosen eingebaut waren. Weiterhin wird darin bemerkt, dass es eine Auswahl von mehr als 12.000 Musikstücken gab, darunter chinesische, japanische, arabische und türkische Musik, sowie aus Opern von Meyerbeer, Rossini, Strauß, Donizetti, Verdi, sowie Stücke von Wagner, Offenbach, Lecoq, Sullivan und anderen.
1898 gewann Abrahams eine Goldmedaille im französischen Dijon und 1900 wurde er auf der Pariser Ausstellung mit einer Silbermedaille ausgezeichnet. Das Jurymitglied Louis-Philippe Mermod bemerkte allerdings, dass zugunsten eines lauteren Klanges die musikalische Harmonie der Instrumente geopfert worden sei. Zwar war dieser Kommentar möglicherweise richtig, aber Abrahams wusste, was seine Kunden wollten: Es besteht kein Zweifel daran, dass die meisten bis heute überlebenden Zylinder-Spieluhren recht laut klingen, aber dennoch gut eingestimmt sind. Schließlich gewann Abrahams 1901 eine Goldmedaille bei der schweizerischen Vevey-Ausstellung.

Die Verkaufszahlen für Zylinder-Spieluhren befanden sich inzwischen im ernsthaften Niedergang. Also reduzierten Charles Cuendet und andere Hersteller ihre Kosten, indem sie kleine Musikwerke in große Gehäuse setzen und mit reichdekorierten, farbigen Musikrepertoire-Karten ausstatteten. Die großen Zylinder-Musikwerke mit austauschbaren Zylindern waren zudem viel zu teuer, und deren Verkäufe gingen drastisch zurück. Die Blechplatten-Spieldose bot eine kostengünstige Möglichkeit, um eine große Auswahl an Musikstücken mit einer Anzahl von Platten besitzen zu können, die auch später noch nachgekauft werden konnten. Abrahams begann 1900 mit der Herstellung von Platten-Spieldosen mit Tonkämmen in einer Größe von 56 bis 216 Tonstufen. Sie waren in elegante Gehäuse und Schränke eingebaut, die in seinen Werkstätten hergestellt wurden.

Abrahams war sehr erfolgreich darin, sein Geschäft rentabel zu gestalten, obwohl sein später Einstieg in den Spieldosenmarkt durch den Wechsel von der Zylinder- zur Platten-Spieldose geprägt war. Von Anfang an begeisterte er den britischen Markt, zu dem auch das britische Empire gehörte, mit seinen Platten-Modellen namens Victoria, Alexandra und Britannia. Er produzierte auch das Imperial für den deutschen Markt. Seine Platten-Spieldosen hatten ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis, waren robust, ziemlich laut und hatten einen ausgezeichneten Klang.

Nach dem Tod von Barnett Henry Abrahams im Jahr 1902 führten seine Söhne Joseph H. Abrahams und Henri C. Abrahams das Geschäft als Sons of Barnet Abrahams fort. Die Zeiten waren schwierig geworden, und Henrich verließ das Geschäft im folgenden Jahr 1903. Am 24. Juni 1904 gründete Joseph eine neue Gesellschaft namens Britannia S. A. in Partnerschaft mit Charles Cuendet. Diese Partnerschaft scheiterte jedoch bald, woraufhin das Geschäft am 18. Januar 1905 liquidiert wurde. Erst zehn Jahre später wurde 1915 auch das Londoner Geschäft eingestellt. Auf seinen Musikrepertoire-Karten vermerkte Abrahams keine Seriennummern. Der verstorbene H. A. V. Bulleid listete drei Muster auf, die hier als Abbildung 1 bis 3 dargestellt sind. Es sind liebenswürdige Kunstwerke, die an Romantik und Musik erinnern.

Barnet Abrahams sollte als einer der großen Spieluhren-Hersteller angesehen werden. Er war zu einer Zeit im Geschäft erfolgreich, als andere bereits scheiterten. Seine kleine, als Neuheit geltenden Zylinder-Spieluhren und Platten-Spieldosen wurden von den Schweizern bis weit in die 1900er Jahre hergestellt. Wie Abrahams überlebte auch Reuge, indem er die letzten Schweizer Produzenten zusammenführte, was bis heute anhält. In China und Japan werden immer noch kleine neue Zylinderwerke hergestellt. Vielleicht ist es Abrahams´ Vermächtnis, dass er einen Nischenmarkt gefunden hat, der bis in die Gegenwart überlebt hat.

Abb.1. Diese Repertoire-Karte stammt aus der Zeit um 1895 und hat das Abrahams-Logo in der oberen Kartusche. Am oberen Rand steht Made in Switzerland und am unteren Ste Croix Switzerland und weiter rechts & London. Es trägt das Wort Déposé, das für eingetragenes Design steht. Der Hersteller dieser Repertoire-Karte ist Walter Wanty von Warisan, der in den Schweizer Alpen ansässig war.

Abb. 2. Obige Repertoire-Karte stammt aus der Zeit um 1901, auf der aber sein Logo fehlt. Dies deutet darauf hin, dass Abrahams Musikwerke verwendete, die von anderen Herstellern geliefert wurden.

Abb. 3. Dieses Beispiel ist als Allzweck-Repertoire-Karte bekannt, gedruckt von Muller & Trub, Verleger aus Lausanne. Das Bild zeigt eine Ansicht von Sainte Croix. Es gehört zu einem Zylinder-Spielwerk mit der Seriennummer 26 790, um 1906. Auch dieses Beispiel deutet darauf hin, dass Abrahams mit Musikwerken anderer Hersteller versorgt wurde. Alfred Junod z. B. verwendete ebenfalls diese Karte.

Abb. 4D Die Aufzugskurbel der Spieldose von Abb. 4A.
Auf Abbildung 4D ist der Aufzugsmechanismus zu sehen. Es ist ein ausgezeichnetes Design mit leisem Kurbel-Aufzug.

Abb. 5. Eine 10-Melodie-Spieluhr mit einer Standard-Abrahams-Musikrepertoire-Karte.
Das Zylindergehäuse auf Abbildung 5 weist keine besonderen Abrahams-Merkmale auf außer der typischen Musikrepertoire-Karte. Dies deutet darauf hin, dass das Zylinder-Musikwerk wahrscheinlich von einem anderen Sainte-Croix-Hersteller war, oder möglicherweise aus alten Lagerbeständen von Cuendet stammt, nachdem Abrahams das Geschäft übernommen hat. Die Abbildung zeigt eine feine 10-Melodie-Zylinder-Spieluhr mit einer Standard-Abrahams-Musikrepertoire-Karte. Das Gehäuse ist in traditioneller Ausführung gestaltet.